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Der„Speckgürtel“ Berlins

Ältere Anwohner werden sich noch genau an den säuerlichen „Duft“ erinnern, der bei ungünstiger Windrichtung über Stahnsdorf, Kleinmachnow und Teltow wehte – und selbst in Steglitz und Zehlendorf noch zu riechen war. Heutzutage können sich viele Leute nicht vorstellen, dass das Obst und Gemüse vom Markt früher oft von eben jenen Rieselfeldern stammte, auf denen ein großer Teil der Berliner Abwässer landete. So lebten die Großstädter dank der Bewirtschaftung der Rieselfelder über hundert Jahre lang „wie die Made im Speck“ – ohne zu ahnen, welche Umweltgefahren sich daraus ergeben würden.

Alter Berliner Kanalisationsplan aus dem 19. Jahrhundert. Bild: Archiv Peter Reichelt

1871: In Berlin hat man andere Sorgen, als über die Kontamination von Böden nachzudenken. Es stank bestialisch, Keime wie Typhus und Cholera breiteten sich aus und Ratten rannten über die Boulevards. Denn nach dem Sieg über Frankreich und durch die Industrialisierung erlebte Preußens Hauptstadt einen enormen Bevölkerungszuwachs. Die Rinnsteine, in die bis dahin die Abwässer eingeleitet wurden, quollen über waren mit den Fäkalienmengen komplett überlastet. Kurz bevor die hygienischen Zustände vollends unerträglich wurden, veranlasste 1874 der Berliner Polizeipräsident, alle Berliner Haushalte an die Kanalisation anzuschließen. Schon wenige Jahre danach gab es kaum noch Typhuserkrankungen in der Stadt.

Unter der Leitung des Stadtplaners James Hobrecht, seinem Bruder, Oberbürgermeister Arthur Hobrecht, und dem Arzt Rudolf Virchow wurde ein komplexes System zur Stadtentwässerung geplant. Fortan gab es zwölf Radialsysteme in der Stadt, die die Abwässer aus der Kanalisation in jeweils einem Pumpwerk zusammenführten. Von dort aus gelangten sie zu den rund um die Stadt erworbenen Stadtgütern (den Rieselfeldern), wo sie im Boden versickerten. Bereits drei Jahre zuvor waren auf dem Tempelhofer Feld Versuche durchgeführt worden, um die Versickerung von Abwässern auf Grünflächen zu erproben. So wurde Berlin innerhalb von zwanzig Jahren zur saubersten Stadt der Welt – und Hobrecht zum international gefragten Abwassersachverständigen, der Städte wie Moskau, Tokio und Kairo beim Bau von Kanalisationsanlagen beriet.

Ein Boom für die Landwirtschaft

Die hiesigen Rieselfelder erlangten aber auch in anderer Hinsicht große Bedeutung: Die Landwirtschaft, die vorher auf den kargen und niederschlagsarmen Böden kaum Erträge erwirtschaften konnte, versorgte die Märkte nun mit frischem Obst, Gemüse und Getreide. Sogar Fischteiche legte man auf den Rieselfeldern an – auch um zu zeigen, wie sauber das durch den Boden gesickerte und dadurch gereinigte Abwasser war. Der „Speckgürtel von Berlin“ avancierte so zur unverzichtbaren Lebensader der wachsenden Hauptstadt. Zwar wurden mit der Zeit auch verschiedene Klärwerke gebaut, wie etwa in Stahnsdorf, wo die Abwässer gereinigt und der Klärschlamm anschießend Deponien oder Heizkraftwerken zuführt wurdenen. Aber die Rieselfelder spielten für die Stadt, die um 1920 auf mehr als vier Millionen Einwohner gewachsen war, weiterhin eine wichtige Rolle. Um aus den Rieselfeldern einen optimalen Ertrag zu holen, hatte man Gutshöfe aufgekauft und zu sogenannten „Vorwerken“ ausgebaut: Gut Marggraffshof, Gut Stahnsdorf, Gut Gütergotz (heute: Güterfelde) und Gut Stuveshof. Von diesen Wirtschaftshöfen aus wurden die Felder bearbeitet und die Bewässerung der Rieselfelder reguliert.

Das Standrohr zeigte den Abwasserdruck an. Bild: Archiv Peter Reichelt

Das jeweils in einem Standrohr ankommende Abwasser zeigte den Rieselwärtern den Wasserdruck an, die daraufhin mehr oder weniger Wasser zu den Feldern leiteten. Bei Starkregen kam nicht nur Wasser, sondern auch Müll durch die Rohre, was häufig zu Verstopfungen führte. Aber auch die Gräben, die die Rieselfelder durchzogen, mussten laufend gereinigt und von Unkraut befreit werden. Hohe Wasserstände oder gefrorener Boden bildeten weitere Hindernisse, so dass die Arbeiter auf den Feldern eine schwere Arbeit zu verrichten hatten, und das bei kargem Lohn. Für Heimatforscher Peter Reichelt, der im Klärwerk Stahnsdorf beschäftigt ist, unvorstellbare Zustände: „Arbeiter verdienten am Tag 1,20 Mark und Frauen 50 Pfennige, und das bei einem Zwölf-Stunden-Tag!“ Um für die anstrengende und geruchsintensive Arbeit Mitarbeiter zu gewinnen, bot man Dienstwohnungen, diverse Sozialleistungen und sogar Erholungsaufenthalte im Gütergotzer Schloss an. Dennoch war scheuten viele diese schmutzige Arbeit, weshalb man zeitweise Strafgefangene und im Zweiten Weltkrieg wohl auch Kriegsgefangene zu dieser Arbeit zwang.

Abwasserentsorgung auf historischem Boden

Die Rieselfelder, die sich rund um das damalige Stadtgebiet von Berlin erstreckten, befanden sich teilweise auf historischen Grund und Boden. Der Stahnsdorfer Peter Reichelt (58) hat sich lange und ausführlich mit der Geschichte der Rieselfelder in unserer Region beschäftigt und auch ein Buch darüber geschrieben*. Darin berichtet er, dass die Großbeerener Rieselfelder einst eine trockene Heidelandschaft waren, auf der sich im Jahr 1813 die Truppen vor der berühmten Schlacht bei Großbeeren versammelten. Damals besiegten preußische Truppen mit russischer, schwedischer und österreichischer Unterstützung die Franzosen, zu deren Verbündeten die Bayern, Sachsen, Württemberger und Italiener zählten. So verhinderte man erfolgreich eine napoleonische Besetzung Berlins. „Noch heute suchen Hobbyschatzsucher auf den ehemaligen Rieselfeldern bei Großbeeren nach Kanonenkugeln“ weiß Reichelt zu berichten.

Die heutige Lage der Rieselfelder in und um Berlin. Bild: Mario Kacner

Aber auch im Zweiten Weltkrieg wurden die Rieselfelder zum Schauplatz tragischer Ereignisse, die ihre Spuren hinterließen. Im April 1945 drängten die sowjetischen Truppen von Süden gen Reichshauptstadt. Sie näherten sich über die Rieselfelder, blieben dabei  teilweise in den Feuchtwiesen stecken und fuhren über die Stahnsdorfer Blumensiedlung, die Sputendorfer Straße und die Upstallwiesen mit Panzern Richtung Teltowkanal.

Auf dem Weg durch unsere Region hinterließen sie eine Schneise der Verwüstung. Frauen, Kinder und alte Leute, aber auch desertierende russische Soldaten und solche, die auf Seiten der Deutschen gekämpft hatten, flüchteten sich vor Vergewaltigungen, Plünderungen und wahllosen Erschießungen in die Rieselfelder – oft vergeblich, denn die Rote Armee machte keine Gefangenen. Selbst kurz vor der deutschen Kapitulation gingen die ausweglosen Kämpfe auf den Rieselfeldern weiter. Die Gefallenen wurden gleich vor Ort begraben, so dass man später auf den Rieselfeldern deren sterbliche Überreste, Kleidungsreste, Munition und Blindgänger fand – und niemand weiß, wieviel Bomben dort noch liegen.

Doch nicht nur Gefallene des Zweiten Weltkriegs fanden auf den Rieselfeldern ihre letzte Ruhe, sondern auch diejenigen, die dem sinnlosen Töten bereits vorher ein Ende setzen wollten. Unter der Leitung von Oberst Graf Claus von Stauffenberg hatten Offiziere versucht, andere Militärs durch ein Attentat auf Hitler zu einem Staatsstreich zu bewegen. Bekanntlich scheiterte das Attentat, die Verschwörer wurden hingerichtet und die Leichen anschließend verscharrt. Doch dies erschien den Machthabern nicht spektakulär genug. Auf Befehl von Himmler wurden die Leichen ausgegraben, verbrannt und die Asche dann auf Görings Befehl auf den Rieselfeldern verstreut. Mit dieser widerwärtigen symbolischen Geste wollte er sich an den Verschwörern rächen.

Lieber nicht zu tief graben

Nach dem Krieg wurden die Rieselfelder in der DDR weiter betrieben. Anfangs wurden noch einige Felder privat bewirtschaftet, aber nach der Kollektivierung der Landwirtschaft änderte sich die Flächennutzung. Teile der Felder dienten der Viehhaltung, andere weiterhin dem planwirtschaftlichen Obst-, Gemüse- und Getreideanbau zur Versorgung der Bevölkerung. Peter Reichelt weiß aus damaliger Zeit von einer besonderen Spezialität zu berichten, die von den Rieselfeldern kam: „Dort hat man unter anderem Rhabarber angebaut, und der eignete sich gut zur Weinherstellung. Was lag näher, als den Rhabarberwein „Riesling“ zu nennen?“ Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass große Teile des Bodens durch das jahrzehntelange Berieseln mit ungeklärten Abwässern erheblich kontaminiert waren (u.a. mit Schwermetallen, chemischen Abfällen und Medikamentenresten), und auch das Grundwasser in der Nähe von umliegenden Orten oder neu errichteten Berliner Stadtteilen war davon belastet. So fuhr man schon vor der Wende die landwirtschaftliche Nutzung zurück. Die Ostberliner Abwässer wurden seit 1986 nicht mehr verrieselt, die aus West-Berlin bis 1988 noch zu 34 Prozent. Seit 1998 ist die Verrieselung vollständig eingestellt.  Einige weniger kontaminierte Flächen werden von der Agro Saarmund bewirtschaftet –  „aber man sollte besser nicht tief graben“ warnt Peter Reichelt, zumal nach der Wende auch alte Autos und Sondermüll auf den ehemaligen Rieselfeldern entsorgt wurden.

Mittlerweile hat sich die Natur die ehemaligen Rieselfelder zurückerobert. Selbst auf den belasteten Flächen wachsen Wildkräuter und Sträucher, und Tiere wie Wildschweine, Rehe und Füchse sind dort ebenso zu finden wie diverse Vogel- und Insektenarten. Über 2.000 Hektar ehemalige Rieselflächen in unserer Region wurden der Natur nach mehr als hundert Jahren Nutzung zurückgegeben, und trotz der Wiederbesiedelung durch Fauna und Flora wird es noch viele Jahre dauern, bis die Umweltschäden beseitigt sind. KP

Diese Reportage ist erstmals im Lokal-Report 07/2022 erschienen.