„Wir sind nicht gegen die Verkehrswende“
Neues Bahnwerk für Berlin“ titelten die Medien der Hauptstadtregion erstmals im April 2022. Bald stellte sich heraus: Die Deutsche Bahn (DB) hatte die ehemaligen Rieselfelder zwischen Sputendorf, Schenkenhorst und Marggrafshof als möglichen Standort für ein ICE-Instandhaltungs- und Waschwerk ausgewählt. Das Gelände kam für die DB neben Flächen bei Fangschleuse (Landkreis Oder-Spree) und Danewitz (Landkreis Barnim) als Standort für die 160 Hektar große Anlage in Frage. Nach Angaben der DB sollen 400 Millionen Euro in den Bau des Werkes investiert und rund 400 Arbeitsplätze für hochqualifizierte Fachkräfte geschaffen werden. Insgesamt wurden mehr als 30 mögliche Standorte in der Hauptstadtregion untersucht. Der künftige Produktionsstandort sollte möglichst wenig Konflikte mit dem Naturschutz aufweisen, wenig angrenzende Wohnbebauung oder Wohngebiete haben und in der Nähe einer Hauptstrecke liegen, um unnötige Leerfahrten zu vermeiden. Außerdem musste die Fläche 400 Meter breit und bis zu vier Kilometer lang sein. Denn hier sollen bis zu sechs Hallengleise, 20 Abstellgleise, eine Radsatzdrehbank, Waschanlagen, Diagnosestationen und weitere Einrichtungen entstehen. Das Gelände zwischen den Ortschaften Güterfelde und Sputendorf, das dem Land Berlin gehört und nur zehn Minuten vom Knotenbahnhof Südkreuz in Tempelhof-Schöneberg entfernt liegt, scheint für die DB alle Voraussetzungen zu erfüllen.
Kurz nach Bekanntwerden des Projekts regte sich Widerstand. „Wir haben durch Zufall aus der Presse von dem Vorhaben der DB erfahren“, erinnert sich der Sputendorfer Martin Lohrke. Zusammen mit Kerstin Kalesky ist er einer der beiden Sprecher der Bürgerinitiative „Lebensraum Stahnsdorf“, die sich nach den ersten Medienberichten über das geplante ICE-Werk gegründet hat. „Die DB und die zuständigen Behörden des Landes Brandenburg haben bereits mit Prüfungen begonnen, ohne mit den Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu treten. Dies führte zu massiver Empörung in der Bürgerschaft und Unverständnis darüber, dass in der heutigen Zeit immer noch über die Köpfe der Menschen vor Ort hinweg entschieden wird.“ Die Bürgerinitiative (BI) zählt inzwischen gut über 1.000 Mitglieder. Vom ICE-Werk wären knapp 2.400 Einwohner direkt betroffen in den Ortsteilen Güterfelde, Schenkenhorst, Sputendorf und Marggrafshof. „Wir sind natürlich nicht gegen die Verkehrswende“, unterstreicht Martin Lohrke. „Allerdings haben wir in den vergangenen Jahren genug Abstriche bei der Lärmbelästigung machen müssen, zum Beispiel beim Fluglärm, dem Zugverkehr auf der Anhalter Bahn oder den Windrädern in unserer unmittelbaren Nähe.“
Besonders enttäuscht sei die Initiative von der Kommunikation seitens der DB. „Von der Deutschen Bahn sind wir lange im Unklaren gehalten worden, und bei Antworten seitens des Konzerns mussten wir uns mit Textbausteinen zufriedengeben.“ Die BI bemängelt zudem, dass das Auswahlverfahren seitens der Bahn intransparent ablaufe. So hätten die möglichen Standorte Fangschleuse und Danewitz bei der Bewertzung der Standortkriterien nahezu dieselbe Punktzahl erreicht, doch die DB setze anscheinend alles auf Stahnsdorf als künftigen Standort des ICE-Werks. Laut BI liegt der Verdacht nahe, dass der ausschlaggebende Aspekt für die Standortwahl der DB überwiegend in den Eigentumsverhältnissen liegt. Die Flächen gehören im Wesentlichen nur einem Eigentümer, dem Land Berlin, verwaltet durch die Berliner Stadtgüter GmbH. Dies würde die Kommunikation und die Inanspruchnahme deutlich vereinfachen.
Erstes Treffen mit der DB brachte keine Ergebnisse
Klarheit erhoffte sich die BI von einem persönlichen Treffen mit Alexander Kaczmarek, Konzernbevollmächtigter für Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, in der Berliner DB-Firmenzentrale. „Lebensraum Stahnsdorf“ zeigte sich im Anschluss enttäuscht: So hätten sich die Konzernvertreter äußerst bedeckt zu möglichen Berlin-nahen Standortkandidaten neben Stahnsdorf geäußert. Es werde nicht mehr ergebnisoffen geprüft; eine Vorentscheidung für Stahnsdorf und damit gegen die Anwohner sei bereits gefallen. Weiterer Kritikpunkt: Für die DB sei das frühere Bahngelände in Pankow-Heinersdorf keine Option mehr. Dieses Gelände wurde bereits 2009 an den Milliardär und „Möbel Höffner“-Eigentümer Kurt Krieger verkauft, der hier ab 2025 das Wohnquartier „Pankower Tor“ errichten will. Kaczmarek beschwichtigte unterdessen: Noch sei kein Stempel unter einen möglichen Standort bei Stahnsdorf gesetzt. Die DB gehe mit drei Kandidaten ins Raumordnungsverfahren und wolle „in Richtung Sommer 2023“ ihren Favoriten für den Werksstandort bei Berlin verkünden. Bis zum Sommer 2023 gab es von Seiten der DB keine klare Antwort zum Standort des ICE-Werks. Obwohl die BI weitere Gespräche mit der DB suchte, kamen diese nicht zustande.
Im Koalitionsvertrag des neuen Berliner Senats findet sich folgende Aussage: „Wir unterstützen im Einvernehmen mit dem Land Brandenburg den Bau eines weiteren ICE-Werks auf Stadtgüterflächen in Großbeeren“ (Koalitionsvertrag von CDU und SPD in Berlin für 2023–2026, S. 59). Gemeint ist ein Standort auf ehemaligen Rieselfeldern in der Gemeinde Stahnsdorf, Ortsteil Sputendorf. Diese Formulierung suggeriert, es gebe bereits eine mit dem Land Brandenburg abgestimmte Unterstützung für diesen Standort. Dazu startete die Abgeordnete Marlen Block (Fraktion DIE LINKE) im Mai 2023 eine mündliche Anfrage an die Landesregierung, in der sie wissen wollte, ob die Landesregierung im Einvernehmen mit dem Berliner Senat die (Vor-)Entscheidung getroffen habe, die Errichtung eines ICE-Instandhaltungswerks in Stahnsdorf/OT Sputendorf zu unterstützen. Brandenburgs Ministerpräsident Jörg Steinbach (SPD) sagte im Wirtschaftsausschuss des Landtages in Potsdam, es gebe bislang noch nicht mal ein Ansiedlungsverfahren. Er erwarte, dass das Vorhaben nur umgesetzt werde, wenn es auch breite Unterstützung in der Bevölkerung habe.
Gemeinde weist gravierende Fehler bei der Standortsuche der Bahn nach
Enttäuscht über die Kommunikationsstrategie der DB ist auch die Gemeinde Stahnsdorf, die erst am 25. April aus den Medien (B.Z. berichtete zuerst am 25. April 2022) und einer zwei Tage später folgenden E-Mail der Deutschen Bahn erfuhr, dass der Konzern bei der Standortsuche für ein neues ICE-Wartungswerk Flächen der Berliner Stadtgüter zwischen den Ortsteilen Güterfelde (Siedlung Marggraffshof) und Sputendorf ins Auge fasst. Die Gemeinde fühlte sich in ihrer Planungshoheit beeinträchtigt und entschied sich im August 2022 für juristischen Beistand, um trotz begrenzter Möglichkeiten gegen die Pläne vorzugehen. Angesichts der durch die Kanzlei Geulen & Klinger vorgenommenen Akteneinsicht und der Informationen, die durch ein eigenes Gutachten gewonnen wurden, kamen erhebliche Zweifel an der Vorgehensweise bei der Standortfindung auf. Denn nach einer objektiven Bewertung der von der Bahn selbst ins Spiel gebrachten Standorte ist der Standort Stahnsdorf der drittschlechteste von acht bewerteten Standorten. Die nach einem Punktemodell besser platzierten Standorte Danewitz, Rüdnitz (beide Biesenthal), Fangschleuse (Grünheide), Hangelsberg und Baruth wären vorrangig in die Standortauswahl einzubeziehen, diese wurden hinsichtlich ihrer Eignung für das Raumordnungsverfahren jedoch unerklärlicherweise nicht hinreichend tiefengeprüft. Zudem steht die Standortwahl Stahnsdorf / Großbeeren im Widerspruch zu zentralen Zielen des Landesentwicklungsplans Hauptstadtregion (LEP-HR). Dieser stellt den für Berlin und Brandenburg auszufüllenden Planungsrahmen dar, worum sich die Gemeinsame Landesplanungsbehörde (GL) kümmert. Im LEP-HR heißt es unter anderem, dass der Freiraumverbund, ein Netz von Räumen mit wichtigen Funktionen, vor Inanspruchnahme und Zerschneidung zu schützen ist. „Die Deutsche Bahn ist ein staatlich finanziertes Unternehmen, das Steuergelder aufwendet. Alle Bürgerinnen und Bürger, nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch die übrige Bevölkerung, haben ein berechtigtes Interesse an dem bestmöglichen Mitteleinsatz. Gemeint sind ökonomische und ökologische Betrachtungen gleichermaßen“, sagt Stahnsdorfs Bürgermeister Bernd Albers.
DB hält sich bedeckt
Auf die Anfrage vom lokal.report bei der DB nach den konkreten Plänen für das ICE-Werk Stahnsdorf antwortete der Konzern: „Immer mehr Menschen wollen auf die klimafreundliche Bahn umsteigen. Dafür baut die Deutsche Bahn (DB) ihre Fahrzeugflotte konsequent aus. Bis Ende des Jahrzehnts soll diese auf 450 ICE-Züge anwachsen. Damit die vielen neuen Züge gewartet, gereinigt und repariert werden können, braucht es zusätzliche Instandhaltungswerke. So baut die DB derzeit unter anderem in Dortmund ein neues ICE-Werk und erweitert bestehende Standorte. Außerdem prüft die DB verschiedene Optionen für ein zusätzliches neues Werk. Dabei steht noch nicht fest, wo und wann dieses entstehen wird. Sobald die Planungen der DB konkreter werden, binden wir die Landes- und Kommunalpolitik sowie die Bürger ein. Bis dahin bitten wir um Verständnis, dass wir den laufenden internen Prozessen nicht vorgreifen können.“
Die BI hat in den letzten Jahren eine beachtliche Menge an Dokumentationen über andere bereits gebaute ICE-Wartungswerke zusammengetragen. Ein Beispiel ist das Januar 2018 in Betrieb genommene ICE-Werk in Köln-Nippes, das erste CO2-neutrale Instandhaltungswerk der DB. Das Werksgelände ist 2,6 Kilometer lang und bietet Platz für ein Sozial- und Lagergebäude, eine ICE-Waschanlage und eine Enteisungsanlage. Wie in Stahnsdorf geplant, werden hier jede Nacht ICE-Züge gereinigt und gewartet. Für die Anwohner eine nervenaufreibende Tortur. Neben permanenter Geräuschkulisse und Flutlicht beklagen die Longericher den nächtlichen Test des „Makrophons“, wie die ICE-Hupe offiziell heißt. Laut DB ist dies Teil der Sicherheitsüberprüfung. Je nach Windrichtung erreicht das Hupen die Anwohner mit über 100 Dezibel. Der Grenzwert in einem Wohngebiet liegt bei 35. „Wir erwarten das gleiche Szenario für Stahnsdorf“, so Martin Lohrke. „Nur wenige hundert Meter von unseren Häusern entfernt hätten wir jede Nacht Licht- und Lärmbelästigung. Dazu kommt, dass die südliche Bahntrasse vom Südkreuz in Richtung Halle / Leipzig / München bereits heute massiv überlastet ist und Verspätungen beim Fern- und Regionalverkehr an der Tagesordnung sind. Dazu kämen die Leerfahrten der ICEs zum Waschwerk Stahnsdorf.“ Auch das Argument, dass 400 Arbeitsplätze in der Region entstehen würden, sieht Martin Lohrke kritisch. „Die Gemeinde Stahnsdorf und die umliegenden Gemeinden Großbeeren und Ludwigsfelde und Stadt Teltow verfügen über große Gewerbe- und Industriegebiete von unterschiedlicher Prägung. Der Landkreis Potsdam-Mittelmark schneidet bei den Arbeitsplätzen deutlich besser ab als andere Brandenburger Landkreise. Die Arbeitslosenquote liegt hier bei 4,3 Prozent, zum Vergleich auf Landesebene bei 6,3 Prozent und auf Bundesebene bei 5,2 Prozent. Schon heute können die Arbeitsplätze in Großbeeren und Ludwigsfelde zum Beispiel nur durch Einpendler aus Berlin und aus Polen annähernd besetzt werden. Sollte so ein Werk nicht besser dort platziert werden, wo der regionale Arbeitsmarkt stabilisiert und vor allem die jungen Menschen in der Region gehalten werden können?“
Nach unzähligen unbeantworteten E-Mails an die DB haben sich Betroffene des ICE-Werks bei Köln zusammengeschlossen, um gemeinsam zu protestieren. Bis in den Landtag haben sie es geschafft. Auch die BI „Lebensraum Stahnsdorf“ protestierte am 16. November vor dem Brandenburger Landtag in Potsdam. „Wir sehen im ICE-Werk eine Bedrohung für die Lebensqualität in unserer Gemeinde“, so Martin Lohrke. Im Anschluss übergab die BI ein Schreiben an den Ausschuss für Infrastruktur und Landesplanung des Brandenburger Landtags, in dem sie fordert, dass die „unwürdige Hinhaltetaktik zum konkreten Entscheidungs- und Planungsstand für das neue Werk sofort beendet wird“ und die DB und die Gemeinsame Landesplanungsabteilung Berlin-Brandenburg mit der BI in einen Dialog treten. Außerdem wird gefordert, dass das fehlerhafte Ranking zur Standortfindung durch ein transparentes, faires und nachvollziehbares Verfahren korrigiert wird und dass die Brandenburger Landesregierung zu dem Projekt Stellung bezieht. „Wir werden mit unseren Protesten weitermachen“, so Martin Lohrke gegenüber dem lokal.report. „Wir fordern eine nachhaltige und umweltfreundliche Nutzung der siedlungsnahen Flächen, die eine intakte Umwelt und hohe Lebensqualität für die Bewohner gewährleistet! Und einen fairen Umgang mit der lokalen Bevölkerung.“
Fotos: Pixabay.com und Verein „Lebensraum Stahnsdorf“