Verstehen, wie es ist, nichts zu sehen
Ein voller Bus, eine drohende Verspätung und dann ein Fahrgast, der sich gemächlich auf die Suche nach einem Sitzplatz begibt … Nicht jedem ist ein Handikap anzusehen, lernten Auszubildende und praxiserfahrene Lehrfahrer der regiobus bei einer speziellen Schulung zu Sehbehinderten im ÖPNV. Gerade Menschen mit eingeschränktem oder gänzlich verlorenem Sehvermögen benötigen in unübersichtlichen Situationen oft etwas mehr Zeit, um sich zu orientieren. Was andere in einem kurzen Blick erfassen, muss erhört, ertastet oder im engen Blickfeld gedeutet werden.
Heike Thiel weiß, wovon sie den Mitarbeitenden der regiobus berichtet. Sie selbst ist aufgrund einer seltenen Krankheit nach und nach erblindet und hat es sich ehrenamtlich zur Aufgabe gemacht, andere darüber aufzuklären – um Verständnis zu wecken, Missverständnisse zu vermeiden und gezielt helfen zu können.
Ganz praktisch startete sie das Seminar mit dem Erleben des Handikaps: Mit eine Sehbehinderung simulierenden Brillen mussten die Teilnehmenden im dunklen Seminarraum ihren Platz finden – vorbei an anderen, an Stühlen, Tischkanten, dem Garderobenständer. Trotz aller Vorsicht blieben kleine Anbuffer nicht aus und ein erster Eindruck des so anderen Lebens war gemacht.
So sensibilisiert verfolgte die kleine Gruppe gespannt den folgenden Theorieteil: Welche Sehbeeinträchtigungen gibt es und wie wirken sich diese aus, was hilft, um sich selbständig in der Stadt zu orientieren und wie sollte die ideale Haltestelle aussehen. Rege wurde nachgefragt, erzählten die erfahrenen Fahrer von ihren Erlebnissen, davon, wie sie bereits versuchen ihre Fahrgäste zu unterstützen.
Zum Abschluss, wieder Praxis: Brillen auf, den Blindenstock in der Hand musste die Gruppe den Weg zum Treppenhaus und aus dem Gebäude heraus meistern, um dann mit gänzlich verbundenen Augen in einen Bus und zu einem noch freien Platz zu finden. Die Herausforderung war allen anzusehen. Vorsichtig wurde mit Fuß und Stock nach dem Weg getastet, mit der Hand jeder Griff dankbar angenommen.
Immer noch mit verbundenen Augen ging es nun auf die Fahrt zu einer Haltestelle mit der Frage: Woran kann man sich nun orientieren? Rechts, links, langsamer, schneller – wie weit war die zurückgelegte Strecke? Ohne Ansage der folgenden Haltestelle wäre der richtige Zeitpunkt zum Drücken des Halteknopfes schwer zu finden. Der Ausstieg – die nächste Hürde: Wie weit ist eigentlich die Bordsteinkante vom Bus entfernt? Was kommt dann: eine Laterne, ein Weihnachtsbaum, ein E-Roller?
Spätestens jetzt war allen klar, wie wichtig es ist, möglichst dicht am Bordstein an den dafür durch die Taststeine gekennzeichneten Flächen zu halten und gegebenenfalls eine Orientierung durch Ansprache zu geben. Gut zwei Stunden vollgepacktes Programm ließen die regiobus-Mitarbeitenden erleben und lernen wie sie sehbehinderten Fahrgästen helfen können sicher den ÖPNV zu nutzen. Seminarleiterin Frau Thiel freute sich zusammen mit ihrer Begleiterin Kerstin Walter über das große Interesse der Gruppe, über die Fragen und die engagierte Teilnahme. „Ich versuche mich im Kurs immer in die Lage des Fahrpersonals hineinzuversetzen, um zu verstehen, wie sie die Situation erleben, damit wir gemeinsam eine Lösung finden können. Ein so ein reger Austausch wie heute, bringt da sehr viel“, so Frau Thiel anerkennend.
Die regiobus-Gruppe wiederum dankte beiden Kursleiterinnen mit Applaus für die interessanten Einblicke und wird nun sicherlich noch besser wissen, wie wichtig Leitsysteme und Ansagen sind und wie sie als Busfahrerin und Busfahrer sehbehinderte Fahrgäste unterstützen können. Bereits Anfang 2024 hatte ein erster Kurs am regiobus-Betriebshof in Bad Belzig stattgefunden. Weitere sind angedacht.
Fotos: Regiobus