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Kosmos Kandinsky im Barberini

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich in der Malerei ein tiefgreifender Wandel. Künstlerinnen und Künstler strebten nicht länger nach einer Abbildung des Sichtbaren, sondern nach einer neuen, universellen Bildsprache, die den künstlerischen Ausdruck auf das Zusammenspiel von Farben, Linien und Formen reduzierte. Radikal modern, entstanden in Europa und den USA vielfältige Strömungen, die als Geometrische Abstraktion die Grenzen der Malerei ausloteten: Von Suprematismus und Konstruktivismus über das Bauhaus und die britische Nachkriegsabstraktion bis hin zu Hard Edge und Optical Art.

Kosmos Kandinsky. Geometrische Abstraktion im 20. Jahrhundert erzählt als erste Ausstellung in Europa die geometrisch-abstrakte Geschichte nicht in Episoden nationaler Bewegungen, sondern macht Verbindungslinien zwischen ihnen deutlich. Roter Faden der Schau, die vom 15. Februar bis 18. Mai 2025 im Museum Barberini zu sehen ist, sind zwölf Werke Wassily Kandinskys, der als Zentralfigur der Abstraktion und mit kunstphilosophischen Schriften wie Punkt und Linie zu Fläche Generationen von Künstlerinnen und Künstlern beeinflusste. Insgesamt zeigen 125 Gemälde, Skulpturen und Installationen von 70 Künstlerinnen und Künstlern, wie die Geometrische Abstraktion den Vorstellungsraum ihrer Betrachter immer wieder zur Erweiterung herausfordert. Vertreten sind unter anderem Josef Albers, Sonia Delaunay, Barbara Hepworth, El Lissitzky, Agnes Martin, Piet Mondrian, Bridget Riley, Frank Stella und Victor Vasarely. Leihgaben der Schau stammen aus der Courtauld Gallery, London, der Fondation Beyeler, Riehen/Basel, dem Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæek, der Fondation Gandur pour l’Art, Genf, sowie der Peggy Guggenheim Collection, Venedig. Ebenfalls präsentiert werden Werke aus bedeutenden US-Sammlungen wie dem Whitney Museum of American Art und dem Solomon R. Guggenheim Museum in New York sowie der National Gallery of Art in Washington.

Wassily Kandinsky: Ein Wegbereiter als Vorreiter der Abstraktion 

Wassily Kandinsky (1866–1944) gilt als einer der ersten Maler, die den Weg in die Abstraktion einschlugen. Anhand seiner Lebensstationen und der unterschiedlichen Phasen in seinem abstrakten Schaffen werden in der Ausstellung Kosmos Kandinsky in acht Kapiteln zentrale Etappen geometrisch-abstrakter Kunst erfahrbar.  Sterre Barentsen, Kuratorin der Ausstellung: „Die Entwicklung der Ausstellung aus den künstlerischen Phasen Wassily Kandinskys heraus war wirklich erhellend. Der Titel Kandinskys Kosmos beschreibt unser Konzept sehr treffend: Zunächst bezieht er sich auf das unglaublich vielfältige künstlerische Umfeld Kandinskys, das er im Lauf seines Lebens so maßgeblich beeinflusste. Immer wieder wurde seine Biographie durch die großen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelenkt. Dadurch hinterließ er weitreichende Spuren: im russischen Suprematismus, am deutschen Bauhaus oder in der französischen Abstraction-Création. Nach seinem Tod 1944 waren es die europäischen Exilanten, die Kandinskys Ideen in die USA brachten, wo Hard Edge und Optical Art entstanden. Verbindend für alle diese Strömungen ist aber auch das intensive Ausloten der Darstellbarkeit des Raums durch Mittel der Malerei. Die Künstlerinnen und Künstler waren fasziniert von den Erkenntnissen aus Wissenschaft und Technik ihrer Gegenwart, und sie wollten neue Erfahrungen von Raum und Zeit in ihrer Kunst zum Ausdruck bringen. Auch darin war Kandinsky ein Pionier.“ 

Frank Stella Entwurf Nr. 4 für die Sacramento Mall, 1978 Acryl auf Leinwand 262,5 × 262,1 cm National Gallery of Art, Washington; Schenkung des Collectors Committee © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Anfänge in München und Moskau 

Wassily Kandinsky, geboren in Moskau und zunächst zum Juristen ausgebildet, studierte ab 1896 in München Kunst. Ab 1908 präsentierte er erste, dem Expressionismus zuzuordnende Werke, die sich durch kräftige Farben und vereinfachte Formen auszeichnen. Es folgte die Gründung der Künstlervereinigung Der Blaue Reiter und die immer stärkere Abkehr von der reinen Wiedergabe sichtbarer Realität. 1911 veröffentlichte er das richtungsweisende theoretische Werk Über das Geistige in der Kunst, das bis in die 1970er Jahre die Kunstwelt beeinflussen sollte. Mit Bezug auf Musik, Tanz, Physik und Biologie nahm Kandinsky darin Impulse der Neurowissenschaften auf und verknüpfte sie mit spirituellen Vorstellungen wie der Theosophie, die Kandinskys Schaffen stark beeinflusste. Sein Ziel war der Beweis, dass Farben und geometrischen Flächen universelle Eigenschaften innewohnen, die in einem Wechselverhältnis stehen.  

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 musste Kandinsky Deutschland verlassen. Er kehrte nach Moskau zurück, wo bereits erste Werke des Suprematismus und des Konstruktivismus entstanden waren. Die Künstlergruppen, zu denen Kasimir Malewitsch, Ljubow Popowa, Iwan Kljun oder El Lissitzky zählten, stellten sich eine Zukunft vor, in der Kunst und Technik, Geist und Verstand vereint waren. Ihre abstrakte Bildsprache aus Linien und geometrischen Flächen wurde zum Ausdruck einer Utopie des Fortschritts. 1917 stellten die meisten Künstlerinnen und Künstler in Russland ihre Arbeit in den Dienst der Revolution und wandten sich der industriellen Produktion zu – Kandinsky, der sich mit der psychologischen Wirkung der Kunst auf den Menschen beschäftigte und von ihrer „inneren Notwendigkeit“ überzeugt war, wurde zum Außenseiter.  

Wassily Kandinsky Weißes Kreuz, 1922 Öl auf Leinwand 100,5 × 110,6 cm Peggy Guggenheim Collection, Venedig (Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)

Vom Bauhaus nach Frankreich

1922 folgte Kandinsky einem Ruf an das Bauhaus nach Weimar, wo sich der Einfluss der Moskauer Strömungen und ihrer Interpretation von Quadraten, Kreisen, Dreiecken und Linien in seinen Arbeiten niederschlug. Umgeben von Bauhaus-Meistern wie Josef Albers, László Moholy-Nagy oder Johannes Itten wurde sein Stil analytischer, die Formen glatter. 1926 veröffentlichte Kandinsky sein Buch Punkt und Linie zu Fläche, in dem er die für ihn grundlegenden Bausteine der Kunst und ihre emotionale Wirkung untersuchte. 

Mit seinen Bauhaus-Kolleginnen und -Kollegen legte Kandinsky auch den Grundstein für die Konkrete Kunst, die unter anderem Max Bill, Verena Loewensberg oder Richard Paul Lohse während des Zweiten Weltkriegs entwickelten. Inspiriert durch Mathematik und Wissenschaft, zeichnet sie sich durch kräftige Farben in strukturierten Mustern ohne Bezug zur Natur aus. Kandinsky selbst musste Deutschland nach der Schließung des Bauhauses durch das NS-Regime 1933 verlassen. Er zog nach Frankreich und wurde Mitglied der Künstlergruppe Abstraction-Création. 1931 gegründet, wollte die Gruppe um Piet Mondrian, Alexander Calder, Sophie Tauber-Arp oder Marlow Moss die gegenstandslose Kunst fördern und sich damit deutlich von der Figuration des Surrealismus absetzen. Kandinsky, der sich mit beiden Gruppen auseinandersetzte, schuf in dieser Zeit Werke, die phantastisch wirken, aber oft von wissenschaftlicher Literatur inspiriert wurden und einer geometrischen Formensprache verpflichtet blieben. Unabhängig vom Ende der Fortschrittsutopie, das mit dem Aufkommen totalitärer Systeme verbunden war, sah er die Kunst weiterhin als Raum für eine Auseinandersetzung mit dem Spirituellen. 1944 starb Wassily Kandinsky in Neuilly-sur-Seine in der Nähe von Paris.

Victor Vasarely Vegaviv II, 1955 Vinylfarbe auf Holzplatte 113,7 × 76,2 cm Fondation Gandur pour l’Art, Genève © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Vernetzung im Exil: London und New York

Der Zweite Weltkrieg war eine entscheidende Zäsur für die Entwicklung der Geometrischen Abstraktion. Mit der deutschen Besetzung von Paris wanderten zahlreiche Künstler, Galeristen und Kritiker in die USA aus – nicht, ohne vorher in London als neuem Zentrum der Geometrischen Abstraktion Zuflucht zu suchen, dort bereits durch Barbara Hepworth und Ben Nicholson ausgelotet. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete sich in London die Gruppe der Constructionists, die Anregungen der Konstruktivisten aus der Vorkriegszeit aufnahmen. Die Künstlerinnen und Künstler nutzten neu entwickelte synthetische Materialien wie Plastik, Acryl und Fiberglas in Kombination mit Holz und Aluminium. Künstlerinnen und Künstler wie Mary Martin, Victor Pasmore, Kenneth Martin oder Mary Webb spiegeln den optimistischen Modernisierungsschub, der den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges prägte.

Auch in den USA beeinflussten die Ideen der europäischen Exilanten den weiteren Weg der Geometrischen Abstraktion und wurden durch US-Künstlerinnen und -Künstler weitergetragen. In den 1960er Jahren prägten Frank Stella, Ellsworth Kelly und Carmen Herrera mit klaren Formen, scharfen Konturen und leuchtenden Farben die Hard Edge genannte Strömung, die sich von der expressiven Malweise entfernte, die in den 1950er Jahren die New Yorker Kunstszene dominiert hatte. Gleichzeitig und in Abgrenzung dazu entwickelte sich der Minimalismus, der in Werken von Gene Davis, Donald Judd, Jo Baer oder Agnes Martin Einfachheit, Ordnung und Wiederholung in den Fokus rückt.

Mit den Grenzen der visuellen Wahrnehmung spielten die Künstlerinnen und Künstler der Optical Art: Im Rückgriff auf Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch, die mit scheinbar schwebenden Bildelementen experimentiert hatten, brachten Bridget Riley, Victor Vasarely, Richard Anuszkiewicz oder Julian Stanczak Bewegung in statische Gemälde. Die Op Art verband die am Bauhaus erarbeiteten Erkenntnisse der Wirkung von Farben und Formen mit der Faszination der 1960er Jahre für Technologie, Raumfahrt und der Bildtechnik des Fernsehens. 

Frank Stella Entwurf Nr. 4 für die Sacramento Mall, 1978 Acryl auf Leinwand 262,5 × 262,1 cm National Gallery of Art, Washington; Schenkung des Collectors Committee © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Ortrud Westheider, Direktorin des Museums Barberini, über die Ausstellung: „Kosmos Kandinsky zeigt deutlich, wie unerschrocken und radikal modern die Geometrische Abstraktion zu jedem Zeitpunkt war, und steht dem mitunter formulierten Vorwurf, dass die Geometrische Abstraktion kühl oder ‚inhaltsleer‘ sei, ganz klar entgegen. In ihrer Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Forschungen zum Raum war sie stets Ausdruck und Antrieb großer Ideen. Als internationale Sprache, überschritt sie in einer Zeit des politischen Nationalismus und der Intoleranz in Europa in den 1930er und 1940er Jahren Grenzen. Die 125 herausragenden Leihgaben der Ausstellung verdeutlichen die übergreifende Erzählung, die der stupenden Vielfalt der Geometrischen Abstraktion innewohnt, und wir sind voller Freude, dem Barberini-Publikum diese neue Perspektive eröffnen zu können.“ 

„Kosmos Kandinsky. Geometrische Abstraktion im 20.Jahrhundert“ Kuratorin der Ausstellung Sterre Barentsen, die im Barberini volontierte, hat sich gleich mit ihrer ersten kuratierten Ausstellung in Potsdam ein Denkmal gesetzt.. Foto: Manfred Zeimer

Die sechs Jahrzehnte Geometrischer Abstraktion zeigt die Ausstellung in 125 Werken von 70 Künstlerinnen und Künstlern. Zu den über 40 internationalen Leihgebern gehören das Courtauld, London, das Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, das Kröller-Müller Museum, Otterlo, die Fondation Gandur pour l’Art, Genf, die Fondation Beyeler, Riehen/Basel, das MOMus – Museum of Modern Art – Costakis Collection, Thessaloniki, die Peggy Guggenheim Collection, Venedig, das Solomon R. Guggenheim Museum und das Whitney Museum of American Art, New York, das Philadelphia Museum of Art, die National Gallery of Art, Washington DC, die Staatlichen Museen zu Berlin, die Hamburger Kunsthalle, die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, sowie zahlreiche Privatsammler, deren Werke nur selten öffentlich gezeigt werden. Die Ausstellung wurde initiiert durch Daniel Zamani, Kurator am Museum Barberini von 2018 bis 2024. Bereits in der Konzeption des Projekts arbeitete er mit Sterre Barentsen zusammen, die die Ausstellung als Kuratorin übernahm. Sie verantwortete auch den 288-seitigen Katalog, der begleitend bei Prestel erscheint.

Fotos: Museum Barberini und Manfred Zeimer