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Das Wegschauen hält bis heute an

Bei einem Fachgespräch zu sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR mit besonderem Blick auf Menschen mit Behinderungen am 18. Februar in Potsdam berichteten Betroffene erstmals öffentlich über das erlebte Unrecht. Veranstaltet wurde das Fachgespräch von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Kooperation mit der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAkD). Menschen mit Behinderungen waren in der DDR oft in Einrichtungen mit schlechten Bedingungen untergebracht. Die starke Abhängigkeit von Betreuungsstrukturen und die Machtverhältnisse in solchen Institutionen ermöglichten sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Um dieses Unrecht angemessen anzuerkennen, sind Unterstützungsangebote zwingend notwendig.

Viele Menschen mit Behinderungen wurden in der DDR im frühen Kindheitsalter von ihren Eltern und engen Bezugspersonen getrennt und in Einrichtungen der Behindertenhilfe, wie Internaten und Heimen, untergebracht. Betroffene schildern, dass sie in wesentlichen Entwicklungsphasen ihres Lebens dort weder Schutz noch Förderung erhielten. Stattdessen waren sie Vernachlässigung sowie physischen, psychischen und sexualisierten Grenzüberschreitungen ausgesetzt. Den gewaltvollen alltäglichen Umgang und das bewusst vermittelte Gefühl der Minderwertigkeit und Wertlosigkeit durch die Betreuungspersonen haben sie als „Normalität“ erlebt. Gehörlose Kinder und Jugendliche hatten kaum Möglichkeiten sich zu verständlich zu machen, da die Gebärdensprache im DDR-Bildungswesen untersagt war und nicht vermittelt wurde. Das isolierte die Betroffenen, erst recht dann, wenn sie Missbrauch und Gewalt erlebten und Hilfe gebraucht hätten. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen kam in der DDR aber auch in Familien und im sozialen Umfeld vor. Insbesondere für Betroffene mit Behinderungen gab es keine Ansprechpersonen oder Unterstützungsangebote.

Prof. Dr. Julia Gebrande, Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs: „Es wurde damals weggeschaut und das hält bis heute an. Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in der DDR ist zwingend notwendig. Es geht um die Anerkennung des erlebten Unrechts, die sich auch in passenden Unterstützungsangeboten äußern muss. An wen hätten sich Menschen mit Behinderungen damals wenden können, als ihnen Gewalt angetan wurde? Heute gibt es zwar Beratungs- und Unterstützungsangebote für Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs. Aber sie müssen auch barrierefrei zugänglich sein. Fachkräfte in Einrichtungen der Behindertenhilfe, in Kliniken, Werkstätten und Beratungsstellen müssen sensibilisiert und fortgebildet werden in Bezug auf die besonderen Herausforderungen, die Betroffene mit Behinderungen erleben.“

Dr. Maria Nooke, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur: „Mit der Stiftung Anerkennung und Hilfe ist ein wichtiges Signal gesetzt worden, um das erlittene Unrecht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen anzuerkennen. Im Land Brandenburg erhielten 1.900 Betroffene so eine finanzielle Unterstützung. Mir liegt sehr daran, dass weiterhin öffentlich darüber aufgeklärt wird, wieviel Leid und Unrecht in der DDR an jungen Menschen mit Behinderungen in professionellen Einrichtungen verübt wurde. Auch aus ideologischen Gründen wurde sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen tabuisiert. Angesichts der langanhaltenden Folgen ist eine dauerhafte Unterstützung für die Betroffenen dringend notwendig. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch den Deutschen Bundestag am 31. Januar 2025 wird der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt gestärkt. Betroffene müssen überall in der Gesellschaft Gehör finden.“

Zwischen 1949 und 1990 waren in der DDR rund 140.000 Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in Wochenstätten, Heimen, Krankenhäusern oder psychiatrischen Kliniken kurzzeitig bis dauerhaft untergebracht. Es gab Sonderschulen und Förderstätten mit Internatsbetrieb für Menschen mit Hör- oder Sehschädigungen oder mit körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen. Diese Kinder und Jugendliche haben auch später als Erwachsene oft nicht die Möglichkeit er-halten, für ihre eigenen Rechte einzutreten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Die Berichte betroffener Menschen sind die Basis für Aufarbeitung. Die Aufarbeitungskommission möchte Betroffene aus der Region Brandenburg, aber auch aus allen anderen Bundesländern ermutigen, sich bei ihr zu melden und ihre Geschichte zu erzählen – im Rahmen einer vertraulichen Anhörung oder in einem schriftlichen Bericht. Vertrauliche Anhörungen werden in den Regionen von den Anhörungsbeauftragten der Kommission durchgeführt und von einer psychosozialen Fachperson begleitet.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen sexualisierter Gewalt ge-gen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Betroffene sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der Kommission über sexuellen Kindesmissbrauch berichten möchten, können sich telefonisch, per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden. Informationen und Kontaktmöglichkeiten

Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur berät Menschen, die politische Verfolgung und Unrecht in der DDR erlitten. Sie unterstützt bei Rehabilitierungs- und Entschädigungsverfahren und klärt die Öffentlichkeit über die SED-Diktatur auf.

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