Ein Sikh-Tempel mitten in Teltow
Vielleicht hat sich schon so mancher Bahnreisende gefragt, weshalb sonntags immer eine große Anzahl von indisch gekleideten Besuchern nach Teltow fährt. Des Rätsels Lösung: Dort befindet sich ganz in der Nähe des Regionalbahnhofs ein großer Sikh-Tempel – für viele Anwohner ein völlig unbekanntes Terrain.
Amandeep Singh, ein freundlicher junger Mann, der an der Universität in Potsdam an seinem Masterabschluss in Bioinformatik arbeitet, empfing uns am Eingang im Kellergeschoss des imposanten Gebäudes in der Teltower Bahnstraße. Dort müssen alle Besucher die Schuhe ausziehen und vor den Zusammenkünften auch ihre Hände und Füße waschen. Hineingehen dürfen aber alle, egal wo sie herkommen oder welcher Religion sie angehören. Man durchquert dann mehrere Räume, die den menschlichen Sinnen gewidmet sind und offensichtlich verschiedene Erlebniswelten für Kinder darstellen, bis man zu den eigentlichen Aufenthalts- und Gebetsräumen vordringt. Jeden Tag gibt es dort Gebetsveranstaltungen, aber an Sonntagen herrscht Hochbetrieb: Bis zu 400 – an Feiertagen sogar 1.000 – Gläubige besuchen den Sikh-Tempel im Laufe des Tages, und sie beten und singen dann nicht nur zusammen, sondern werden auch – wie es Tradition ist – kostenlos mit vegetarischen Essen versorgt. Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gehören zu den grundlegenden Tugenden eines jeden Sikhs.
Die Sikhs in Indien und der Berliner Region
Die Sikh-Religion entstand im 15. Jahrhundert in der Region Punjab in Indien als Gegenbewegung zum gesellschaftsspaltenden Kastenwesen des Hinduismus. Sie wurde von Guru Nanak gegründet, der eine Botschaft der Gleichheit, des Dienstes an anderen und der Hingabe zu Gott predigte. Zu den zentralen Grundsätzen des Sikhismus zählen der Glaube an einen Gott, der unendlich, ewig und alles durchdringend ist sowie an die Wiedergeburt. Sikhs glauben, dass Gott durch Gebete, Meditation und ein rechtschaffenes Leben gefunden werden kann. Der Sikhismus legt großen Wert auf soziale Gerechtigkeit, fleißige Arbeit und vorbildliche Lebensführung. Sikhs glauben, dass alle Menschen in den Augen Gottes gleich sind, unabhängig von Rasse, Kaste oder Geschlecht. Sie glauben auch an die Bedeutung des selbstlosen Dienstes für andere, und viele Sikhs engagieren sich für wohltätige Zwecke wie der Versorgung von Obdachlosen, oder sie leisten medizinische Hilfe für Bedürftige. Heute wird der Sikhismus von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt praktiziert. Die Mehrheit der Sikhs lebt in Indien, aber es gibt auch bedeutende Sikh-Gemeinschaften in Europa und in den USA. Alle männlichen Sikhs tragen den Nachnamen „Singh“ (Löwe) und sind meist am Turban – der die naturbelassenen, ungeschnittenen Haare bedeckt – und an einem langen Bart zu erkennen, alle Frauen heißen „Kaur“ (Prinzessin). Symbole wie der immer getragene eiserne Armreif und ein Dolch erinnern Sikhs daran, dass sie jederzeit bereit sein müssen, Schwache und Unschuldige zu verteidigen. Die Berliner Gemeinde „Gurdwara Sri Guru Singh Sabha Berlin e.V.“ („Gurdwara“ heißt Tempel bzw. „Tor zu Guru“) hat ihren Sitz in Teltow. Dorthin pilgern viele der ungefähr 6.000 in Berlin lebenden Sikhs. Seit zwei Jahren trifft man sich hier, nachdem das alte Haus in Berlin dem Besucheransturm nicht mehr gewachsen war.
Engagement und Wohltätigkeit
Ein großes Gebäude in Teltow, die Beköstigung von tausenden Besuchern und eine aktive karitative Tätigkeit – da stellt sich die Frage nach der Finanzierung. „Bei den Sikhs ist es üblich, zehn Prozent des Einkommens zu spenden, aber es ist nicht verpflichtend und muss auch nicht direkt an die Tempelgemeinde entrichtet werden. Seit dem 17. Jahrhundert, als in einzelnen Tempeln Betrugsfälle vorkamen, darf man ganz offiziell auch Geld an andere Wohltätigkeitsorganisationen spenden und erfüllt damit ebenso seine religiösen Pflichten“, erklärt uns Jaswinder Singh, Präsident und Vorstandsmitglied der Gemeinde in Teltow. Die hiesige Gemeinschaft hat sich bei verschiedenen Naturkatastrophen, Kriegen und Notfällen großzügig gezeigt, so wurden beispielsweise Kriegsopfer in Syrien unterstützt, während der Corona-Epidemie kostenlose Essensrationen an ein Berliner Krankenhaus geliefert und im Verlaufe des letzten Jahres 785 Ukraine-Flüchtlinge vorläufig untergebracht und verpflegt. Außerdem ist man in regem Austausch mit anderen Wohltätigkeitsorganisationen und pflegt den interreligiösen Dialog. Auch mit verschiedenen Schulen ist man in Kontakt und öffnet die Räumlichkeiten für Führungen und Gespräche.
Der Gurdwara steht wie eingangs erwähnt allen Besuchern offen. Solche Tempel gibt es in vielen Ländern, aber der bekannteste – dem kürzlich auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock einen Besuch abstattete – befindet sich im indischen Amritsar. „Auf Befehl der damaligen indischen Regierung unter Indira Gandhi wurden dort schreckliche Massaker an Sikhs verübt, daher sind viele ältere Sikhs noch heute traumatisiert“, erklärt Amandeep Singh. Der Goldene Tempel erstrahlt jetzt wieder in altem Glanz, und Sikhs erfahren mittlerweile in Indien und auf der ganzen Welt mehr Anerkennung, was sicher daran liegt, dass ihr Einsatz für Notleidende und Bedürftige hilft, Vorurteile abzubauen. „Gleichwohl gibt es hin und wieder auch in Berlin Mobbing am Arbeitsplatz“, berichtet Amandeep Singh, „nämlich wenn zugereiste Kollegen nur ihre eigene Religion gelten lassen wollen“, schildert er seine Erfahrung. „Im Allgemeinen fühlen sich die Sikhs hier aber durchaus akzeptiert und anerkannt, auch in Teltow“, versichert er.
Gastfreundschaft wird großgeschrieben
Nach all den interessanten und umfangreichen Informationen über die Sikh-Religion, den Tempel und die Aktivitäten der Gemeinde durften wir endlich die Gebetsräume besichtigen. „Unsere Zusammenkünfte in diesem Raum werden in der Punjabi-Sprache abgehalten. Das sollte aber niemanden hindern, daran teilzunehmen: Beten und meditieren kann man in allen Sprachen“, betont Singh. Alle Besucher müssen sich Kopftücher umbinden, ansonsten kann man sich frei bewegen. Der Blick wird auf den von einem mächtigen Baldachin überspannten Altar gelenkt, wo die heiligen Schriften, das „Guru Granth Sahib“ aufbewahrt werden. Da das in einer eigenen Schrift niedergeschriebene Buch als lebende Person verehrt wird, wird es nachts nebenan in einem eigenen Bett zur Ruhe gelegt, für uns ein ungewohnter Gedanke – aber nachvollziehbar, dass sich der Gemeindevorstand dann aus Respekt vor dem Guru nur neben dem Altar, nicht davor, fotografieren ließ. Natürlich durften wir nicht gehen, ohne mit einem köstlichen Mahl und heißem Tee bewirtet zu werden – denn wie heißt es im „Guru Granth Sahib“: „Nur der allein kennt den Weg, der arbeitet im Schweiße seines Angesichts und dann teilt mit all den anderen.“ Selten haben wir einen so warmherzigen Empfang erlebt, wie im Teltower Sikh-Tempel. KP
Titelbild: Mario Kacner