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Ostern fern der Heimat

Eigentlich würde Olga Mykhalchuk jetzt in ihrer Wohnung in Lwiw (Lemberg) sitzen. Vom Fenster aus könnte sie den Apfelbaum beobachten, der sich auf die Blüte vorbereitet. Seine verschlungenen Zweige, auf denen die neckischen Schwalben tanzen, würden ihr als Grundmotiv für das Bemalen der Ostereier dienen. Doch daraus wird leider nichts. Denn seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich ihr Leben verändert. In Lemberg hört man statt Vogelgezwitscher Alarmsirenen, wenn russische Drohnen im Anflug sind. Deshalb sitzt die studierte Biochemikerin und Pharmazeutin jetzt im Willkommenscafé am Zahlendorfer Damm in ­Kleinmachnow. Ein gutes Dutzend ukrainischer Frauen hat sich hier versammelt, um von Olga Mykhalchuk die Kunst des Ostereiermalens zu lernen. Sie selbst hat es von ihrer Großmutter gelernt und die wiederum von ihrer Großmutter, denn die Ursprünge von „Pysanky“ – so heißt die Tradition – verlieren sich im Grau der Zeit.

„Heute ist Pysanky mit dem christlichen Osterfest verbunden, aber das kunstvolle Bemalen von Eiern war schon im alten Persien und Ägypten Tradition“, erzählt Olga Mykhalchuk und säubert dabei eine Kistka. Das schlanke Instrument besteht aus einem Metalltrichter, der an einem Holzgriff befestigt ist, um das geschmolzene Wachs präzise auf die Eierschale aufzutragen. „Pysaty“ bedeutet „schreiben“. Die Eier werden nach und nach mit farbigem Bienenwachs überzogen. Der kontrollierte Fluss des Wachses ermöglicht die komplizierten Muster und Motive, die typisch für die ukrainische Kultur und das ukrainische Erbe sind. Durch abwechselndes Auftragen von Wachs und Eintauchen von Farbstoffen schaffen die Künstler detaillierte und lebendige Muster, die Gesundheit, Fruchtbarkeit und Schutz symbolisieren. „Die Methode erfordert Geduld und Übung, da sie ein empfindliches Gleichgewicht zwischen Temperatur, Wachskonsistenz und Handfestigkeit voraussetzt“, erklärt Olga Mykhalchuk den teilnehmenden Frauen. Jede von ihnen arbeitet an einem Ei, manche schon seit über einer Woche.

Seit dem Ende der Sowjetunion erlebt die Pysanky-Kunst eine Renaissance.

Die Ukraine-Hilfe TKS ist eine Initiative des Vereins „Begegnungsstätte Alte Schule“ in Kleinmachnow. 25 Ehrenamtliche betreiben seit dem 07. März 2022 – zwei Wochen nach Kriegsausbruch – einen ­Willkommensladen und ein Willkommenscafé für ukrainische Flüchtlinge. Durch ein großes und schnell gewachsenes Netzwerk konnte der Verein sehr viele ukrainische Familien unterstützen: zum Beispiel bei der Suche nach einer Wohnung, einem Sprachkurs, einer Grundausstattung mit Kleidung, Spielzeug, Hygieneartikeln, Haushaltswaren und Möbeln. „Wir haben über 200 ukrainische Familien in der Region“, berichtet Margret Müller von der Ukraine-Hilfe TKS. „Die Geflüchteten finden im Willkommensladen in der Förster-Funke-Allee und im Begegnungscafé am Zehlendorfer Damm immer Menschen mit offenen Ohren und Herzen.“ Die Förderung praktischer Fähigkeiten ist dem Verein sehr wichtig. So startete im Dezember ein kostenloser Programmierkurs für ukrainische Kinder und Jugendliche. 35 Interessenten meldeten sich an, aber nur 9 Kinder konnten einen eigenen Laptop mitbringen. Eine Berliner IT-Firma half aus und unterstützte die Aktion mit funktionstüchtigen Laptops. Das Angebot an gemeinsamen Aktivitäten ist mittlerweile sehr breit gefächert und reicht von Tanzsport über Yoga bis hin zum Ostereier bemalen, wobei auch auf das Üben der deutschen Sprache großen Wert gelegt wird.

Einer Legende nach hängt das Schicksal der ganzen Welt an den Pysanky.

Bei den Pysanky wird nichts dem Zufall überlassen, denn nach einer ukrainischen Legende hängt das Schicksal der ganzen Welt von den Pysanky ab. Nur wenn sie in der Welt sind, bleiben die bösen Mächte einigermaßen gebändigt. Pysanky werden ausschließlich von Frauen und Mädchen hergestellt. Und zwar in der Woche vor Ostern, nachts, wenn alle anderen schlafen. Verwendet werden rohe, meist ausgeblasene Eier. Für die Grundierung der Eier wird geschmolzenes Bienenwachs verwendet. Es wird zuerst in kleinen Schüsseln erhitzt und dann auf die Eier aufgetragen. Mit einem Stylus wird dann Farbschicht auf Farbschicht „geschrieben“. Früher wurden die Farben aus getrockneten Pflanzen, Baumrinden, Wurzeln oder Beeren hergestellt. Jede Farbe hat eine geheimnisvolle Bedeutung: Grün steht für Hoffnung, Rot für Freude, Sonne und Leben, Gelb verheißt reiche Ernte. Eines der wichtigsten Motive auf Pysanky ist die Sonne, die die Menschen in den Wintermonaten so sehr vermissten. Um sie wiederzugewinnen, wurden viele Eier mit Vogelmotiven verziert, da nur Vögel der Sonne nahe kommen konnten. Die Menschen konnten die Vögel zwar nicht fangen, aber sie sammelten die von ihnen gelegten Eier, die als magische Objekte galten. Während der Christianisierung der Ukraine im 9. und 10. Jahrhundert wurde das Ei zum Symbol für Ostern und die Auferstehung Jesu Christi. Auch Blumen, Fische, Bäume, Pferde und Dreiecke (als Symbol der Heiligen Dreifaltigkeit) werden häufig dargestellt. Am nützlichsten sollen die Pysanka mit spiralförmigen Zeichen sein: „Die Pysanka-Ornamente haben ihren Ursprung in den Tripolje-Symbolen“, berichtet Olga Mykhalchuk, die auch als Kunstlehrerin tätig ist. „Die Cucuteni-Tripolje-Kultur gehört zu den südosteuropäischen Kulturen des Neolithikums und Äneolithikums und ist über 7.000 Jahre alt. In dieser Zeit entstanden Siedlungen mit bis zu 20.000 Einwohnern.“ Bis heute finden sich auf den bemalten Eiern christliche und vorchristliche Symbole wie Beregynias, weibliche Gottheiten, die Mutterschaft, Schutz, Spiritualität und Verantwortung für die Familie symbolisieren.

Irgendwann wird alles wieder gut.

Traditionell werden die fertigen Eier am Ostersonntag in der Kirche gesegnet und einem besonderen Menschen geschenkt. Diese Person bewahrt das Ei wie ein Amulett auf. Viele hier wollen die fertigen Eier nach Hause schicken, zu ihren Lieben, mit denen sie auch in diesem Jahr kein gesegnetes Osterfest feiern können. Die jüngste Teilnehmerin zeigt uns ein Ei, auf dem die ukrainische und die deutsche Flagge wehen. „Es soll Hoffnung und Zuversicht symbolisieren. Irgendwann wird alles wieder gut.“

Fotos: Redaktion und Margret Müller