Am Ort, wo niemand wohnen möchte
An diesem Tag fühlen wir uns eindeutig privilegiert: Wir dürfen das Gefängnis, das wir betreten haben, drei Stunden später wieder verlassen. Die Insassen der JVA Heidering müssen länger ausharren. Wie leben sie dort – und was wird dafür getan, damit sie nicht zurückkehren müssen? Wie gestaltet sich die Arbeit mit Strafgefangenen? Ein Besuch in unserer Nachbarschaft, um den „Knast“-Alltag kennenzulernen.
Vorbei an Sputendorfer Windrädern und idyllischen Pferdekoppeln machen wir uns auf den Weg zur JVA Heidering. 259 Gefangene sitzen dort gegenwärtig im Männervollzug wegen Diebstahl ein, 149 wegen Körperverletzung und 137 wegen Drogenhandel, manche auch mit Mehrfach-Verurteilungen. 323 Gefangene haben keine deutsche Staatsangehörigkeit und stammen aus mehr als 42 Ländern – unter den 203 deutschen Insassen sind viele mit Migrationshintergrund, man könnte also mit ethnischen Konflikten rechnen, denn im dort praktizierten Wohngruppenvollzug kommt es zwangsweise zu täglichen Begegnungen. Wir sind gespannt darauf, wie die Justizmitarbeiter damit umgehen. Doch zunächst passieren wir die Einlasskontrolle, die ähnlich wie auf Flughäfen abläuft. Nach dem Passieren des Eingangsbereichs erwartet uns ein freundlicher Mitarbeiter, der uns während des Rundgangs zusammen mit einer netten Kollegin begleiten wird. „Milo“ sollen wir den Leiter des Vollzugsdienstmanagements nennen, vollständige Namen bleiben aus Sicherheitsgründen geheim.
Ein langer Weg durch den mehrfach umzäunten Außenbereich führt uns zum Verwaltungstrakt, wo uns Andreas Kratz freundlich empfängt. Er ist nicht nur Leiter der Justizvollzugsanstalt, sondern auch ein Fachmann für den Neubau von modernen Gefängnissen. Zuvor war er in Sachsen-Anhalt tätig, wo nur etwa zehn Prozent der Gefangenen keine deutsche Staatsangehörigkeit hatten – eine Umstellung. Die JVA Heidering gehört zu Berlin, liegt aber im Land Brandenburg – eine Besonderheit, aber auch ein Beispiel für gelungene Zusammenarbeit zweier Bundesländer. „Milo“ hatte uns schon berichtet, dass alle, die aus den alten Haftanstalten in Tegel oder Moabit kamen, die Vorzüge der zweckmäßigen, luftigen und arbeits-erleichternden Architektur zu schätzen wissen. „In einer modernen Haftanstalt benötigt man weniger Personal als früher“, ergänzt der Anstaltsleiter. Das liegt an der auf Effektivität und Effizienz angelegten Baustruktur und am ganzheitlichen Planungsentwurf. Welche Wirkung die moderne Architektur und die Umgebung auf die Gefangenen haben, soll in einer gemeinsam mit der Fachhochschule Potsdam betriebenen Studie untersucht werden. Unsere Frage nach der Rückfallquote kann Andreas Kratz hingegen nicht beantworten: „Es gibt zu wenig kriminologische Forschung dazu“, bedauert er. „Unser Wissen endet am Tag der Entlassung, in anderen Ländern liegen möglicherweise mehr belastbare Daten vor.“ Dafür wird in der JVA Heidering während des oft nur wenige Monate dauernden Aufenthalts der Gefangenen viel dafür getan, um die Startchancen nach der Entlassung zu verbessern. „In den gemischten Wohngruppen ist man dazu gezwungen, Frieden zu halten. Politik bleibt außen vor“, berichtet „Milo“. „Aber eins ist ganz wichtig: Die Haft soll nicht als ‚komfortabel‘ empfunden werden. Im Gegensatz zu draußen darf kein Insasse hier selbst entscheiden. Alle Dinge wie Arbeit und Freizeitgestaltung müssen extra beantragt werden.“
Weiter führt uns der Weg zu den Werkhallen. Günstig, dass die Gefangenen gerade Mittagspause haben, so können wir uns umsehen und fotografieren. Eine externe Firma lässt in der JVA im Auftrag der Industrie Material sortieren und Gegenstände aus Metall oder Holz anfertigen – in der Holzwerkstatt sogar bis zum kompletten Gartenhaus. Manche Insassen arbeiten auch im hauswirtschaftlichen Bereich. Eine vollwertige Berufsausbildung kann man in der JVA derzeit jedoch nicht absolvieren. Pro Tag erhalten die Gefangenen 14,67 Euro, wenn sie arbeiten, und 2 Euro Taschengeld, wenn sie nicht arbeiten wollen oder können – beispielsweise die fünf Insassen, für die besonders hohe Sicherheitsanforderungen gelten. Es gibt 513 Arbeitsplätze in der JVA, 70 Prozent werden momentan in Anspruch genommen. Vom Lohn kaufen sich die Insassen zum Beispiel Süßigkeiten oder andere Bedarfsartikel, die sie bei einer externen Lieferfirma bestellen können.
Natürlich interessiert uns auch die Gefängnisverpflegung, zumal im Internet diesbezüglich negative Bewertungen verbreitet werden. „Das ist in den letzten Jahren viel besser geworden“, versichert Anstaltsleiter Andreas Kratz. Damit das so bleibt, führt er die Qualitätssicherung stichprobenartig selbst durch und isst täglich in der Mitarbeiterkantine, wo der Caterer unter anderem die gleichen Gerichte serviert wie bei den Häftlingen. Gefangene essen mittags in den Zellen oder in einem Raum nahe den Werkhallen. Frühstück und Abendessen bekommen sie von Mitinsassen, die in der Küche arbeiten, direkt in den Haftraum geliefert, das können wir während unserer Besichtigung vom Hauptgang, der sogenannten „Magistrale“, aus beobachten.
Die Essenszeiten sind genauso festgelegt wie alle anderen Abläufe: Wecken, Aufschluss, Einschluss, Arbeit und Freistunden – und viermal täglich Anwesenheitskontrolle. Für viele Insassen ist das sehr gewöhnungsbedürftig, denn ans frühe Aufstehen oder an einen regelmäßigen Tagesablauf sind sie nicht gewöhnt, doch das gehört eben zu den Dingen, die das Leben nach der Haft und die Eingliederung in die Arbeitswelt erleichtern sollen.
Auf unserem Weg durch die Haftanstalt begegnen wir nun einigen Gruppen von Gefangenen, denn die Mittagspause ist vorbei. Uns fällt auf, wie freundlich und respektvoll der Umgangston zwischen den Justizvollzugsbeamten und den Insassen ist. Viele Gefangene begegnen uns freundlich und grüßen zurück – ein Verhalten, das uns angesichts ihrer teilweise finsteren, martialischen Erscheinung überrascht, von „Milo“ aber als „ganz normal“ beschrieben wird. Da kommt die Frage auf, wie sie sich weiblichen Justizmitarbeitern gegenüber verhalten. „Milo“ beruhigt uns: „Die sind hier sicherer als im Görlitzer Park.“ Trotzdem: Der athletische, streng wirkende stellvertretende Vollzugsdienstleiter, dem wir später begegnen, dürfte es schon etwas leichter haben, sich Respekt zu verschaffen, als eine zierliche Dame. Immerhin werden alle Mitarbeiter gründlich darin geschult, wie man mit den „starken“ Männern umgeht, und ein eigener Fitnessraum sowie die anstaltseigene Turnhalle stehen ihnen täglich für Trainingszwecke zur Verfügung.
Aber auch die Gefangenen dürfen sich – auf Antrag – körperlich ertüchtigen. „Der Cross-fit-Parcours ist bei den Männern sehr beliebt, da können sie sich richtig auspowern und sind danach erstmal ganz ruhig“, informiert uns schmunzelnd einer der Sportbediensteten. Neben der Turnhalle beeindrucken uns die modernen Außenanlagen, die viele Berliner Schulleiter vor Neid erblassen ließen.
Neben dem körperlichen kommt in der Haftanstalt auch das seelische Wohlbefinden nicht zu kurz. Es gibt Räumlichkeiten für Gottesdienste verschiedener Konfessionen und zusätzlich noch Gruppen- und Einzelbetreuung durch verschiedene Geistliche. Allgemein helfen Arbeit, Behandlungsangebote und Freizeitgestaltung bei der Bewältigung des Gefängnisaufenthalts und der damit verbundenen psychischen und familiären Belastungen. Manchen Insassen hilft Sport, anderen künstlerische Betätigung im anstaltseigenen Kunstraum, das Angebot ist groß und die Nachfrage hoch. Bei guter Führung gibt es die Auswahl zwischen Schach, Fußball, Volley- und Basketball, Badminton, Yoga, Leichtathletik, Malen, Musik, Chor, Ethik und vielem mehr – langweilen muss sich niemand.
Für viele Gefangene ist es jedoch zunächst wichtig, überhaupt Grundfähigkeiten zu erlangen. Dafür gibt es in der JVA eine Schule, in der Alphabetisierungskurse stattfinden (viele Insassen können weder lesen noch schreiben) sowie Deutsch- und Grundbildungskurse. „Es handelt sich bei den Leuten oft um Menschen, die seit frühester Kindheit nur Misserfolgserlebnisse hatten. In der Schule genießen sie erste Erfolge und bekommen einen Anstoß, um nach der Haftentlassung besser klarzukommen“, erläutert „Milo“. Dazu kommen noch Antigewalttraining, Training sozialer Kompetenzen und bei vielen Insassen ein Drogenentzug – wobei es wohl keine Haftanstalt gibt, in die keine Drogen oder andere verbotene Gegenstände hineingeschmuggelt werden. Eine Vitrine im Flur der Verwaltung zeigt beschlagnahmte Dinge wie eine Milch-packung, in der ein Handy steckte.
Nun wird es Zeit, uns eine Gefängniszelle von innen anzuschauen. Aus Film und Fernsehen hat man ja gewisse Vorstellungen, die jedoch nicht mehr den modernen Haftbedingungen entsprechen. Für uns verbreiteten die hellen Räume mit eigener Nasszelle eher Krankenhausatmosphäre, wobei die Gefangenen ihre Zelle aber noch individuell dekorieren dürfen. Das Haftraummediensystem mit Fernseher und Telefon ermöglicht gewisse Kommunikation, einen eingeschränkten Internetzugang gibt es im PC-Kurs, sogar ein Onlinestudium wäre unter Umständen möglich. Medizinisches Personal ist rund um die Uhr vor Ort.
Neben all den Betreuungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten ist für die Gefangenen am wichtigsten, den Kontakt zur Familie nicht zu verlieren, was besonders für diejenigen schwierig ist, deren Verwandte im Ausland wohnen. Im weitläufigen Besucherzentrum stehen ansprechend gestaltete und familiengerechte Räumlichkeiten zur Verfügung.
Zum Schluss besuchen wir Vera Schiepe, die in der Abteilung Sozialarbeit die Behandlungs- und Freizeitmaßnahmen koordiniert. Sie hat sich bestens auf unsere Fragen vorbereitet und versichert uns, dass die Arbeit im Justizvollzug eine spannende und lohnende Aufgabe ist. Da ein anerkannter Personal-Mehrbedarf besteht, wären für interessierte Jugendliche oder Quereinsteiger zukünftig mehrere Ausbildungs- und Arbeitsplätze gesichert.
In der Regel, informiert sie uns, verläuft der Anstaltsalltag planmäßig, aber manchmal – wie am Tag vor unserem Besuch – kann auch mehrmals der Alarm ausgelöst werden, beispielsweise bei Konflikten unter den Gefangenen. Im Jahr 2023 wurden mehr als 270 Straftaten bei der örtlich zuständigen Polizei angezeigt – überwiegend Drogendelikte, Körperverletzung, Beleidigung, Urkundenfälschung und Sachbeschädigungen. Die gute Ausbildung der Justizbeamten trägt dazu bei, dass Konflikte ansonsten meist vermieden und Verstöße schnell geahndet werden. Bis vor einigen Jahren gab es in der JVA Heidering ein Gefängnistheater, das auf künstlerischem Weg zur Konfliktbewältigung beitrug, leider wurde dies durch Corona unterbrochen. Man hofft, diesen wichtigen Baustein sozialer Arbeit bei stabilerer Personaldecke weiterführen zu können.
Nach drei Stunden verlassen wir die JVA mit unzähligen neuen Eindrücken, wir erinnern uns an interessante Begegnungen und ungewohnte Perspektiven. Trotzdem: Wir sind froh, das Gefängnis hinter uns zu lassen und in den Alltag zurückzukehren.
Fotos: Polizei Berlin und Mario Kacner