Schiffe, Schleusen, Schlösser
Das Neun-Euro-Ticket sorgt für Wochenendausflüge „in vollen Zügen“. Am Märkischen Ufer in Berlin startet eine entspannte Alternative: eine Schiffsrundfahrt, auf der sich die Hauptstadt aus neuer Perspektive zeigt.
Möwen kreischen, Wellen plätschern, ein „Moin Moin“ vom Schiffsbegleiter: Das Märkische Ufer in Berlin überrascht mit etwas Fantasie fast schon durch Ostsee-Feeling. Wer in diesem Sommer auf sein persönliches Woodstock in der überfüllten Regionalbahn an die Ostsee verzichten will, der findet eine angenehme Alternative mitten in der Hauptstadt – eine mehrstündige Schiffstour, auf der auch Einheimische ihre eigene Stadt aus ungewohnter Perspektive kennenlernen können.
Los geht es im Schatten des Märkischen Museums. In über drei Stunden geht es mit mehreren Zwischenstopps zum Zu- oder Aussteigen durch die Berliner Innenstadt mit ihrem ersten Highlight: Kurz hinter der Jannowitzbrücke präsentiert sich die East Side Gallery auf ihrer Rückseite in ungewohntem Weiß, dafür mit prallem Leben direkt am Wasser – ganz im Gegensatz zum Viertel rund um die Mercedes-Benz-Arena, dessen dunkle, glatte Fassaden nun die weltberühmten Reste der Berliner Mauer überragen. Zuvor hatte das Areal am Ostbahnhof über Jahrzehnte brachgelegen.
Weiter geht es zur Oberbaumbrücke, untermalt mit Informationen zu den Sehenswürdigkeiten links und rechts des Schiffes. „Nach dem Mauerbau war die Brücke aus dem Jahr 1905 für den Straßen- und U-Bahn-Verkehr zunächst komplett gesperrt; ab 1972 konnten Fußgänger sie wieder überqueren“, erfahren die Fahrgäste auf dem gut gefüllten offenen Oberdeck. Seit 1992 erstrahlt das Wahrzeichen nach seiner Restaurierung wieder in altem Glanz, und seit 1995 rumpelt die U-Bahn wieder vom Schlesischen Tor über die Brücke bis zur Endstation an der Warschauer Straße. Heute ist sie eines der beliebtesten Fotomotive der Stadt.
Ein neuer Weg unter bekannten Straßen
Nach wenigen Metern wird es eng: In Sichtweite des „Molecule Man“, einer 30 Meter hohen Skulptur des US-amerikanischen Bildhauers Jonathan Borofsky, biegt das Schiff rechts in den 1850 eröffneten Landwehrkanal. Zum ersten Mal heißt es: Klappe zu, Wasser raus, Klappe auf: In der Oberschleuse direkt an der Lohmühleninsel geht es 30 Zentimeter abwärts, denn Spree und Landwehrkanal fließen von Ost nach West, wenn auch kaum bemerkbar.
Die frühere Grenze begleitet Ausflugsdampfer und viele Gummiboot-Kapitäne weiter: Kreuzberg rechts, der grüne und inzwischen fast bewaldete Mauerstreifen links. Hier ist inzwischen eine fast urbane Wildnis entstanden, die erst mit der nächsten Abbiegung nach rechts verschwindet. Links und rechts des engen Kanals schimmern nun die prachtvollen Altbau-Fassaden von Maybach- und Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg durch die Baumkronen, und nach wenigen Minuten ist mit der Admiralbrücke von 1882 ein bekanntes Ziel des Berliner Nachtlebens erreicht. Hier versammeln sich – zum Leidwesen der Nachbarn – besonders am Wochenende junge Einheimische und Touristen für ihren oft lautstarken Start in den Abend. Die Auflösung der Ansammlungen durch die Polizei und die vorsichtige Rückkehr der Feiergesellschaft sind seit Jahren eine Routine, doch immerhin: Es bleibt stets friedlich.
Wie alle 36 Brücken über den Kanal ist auch die Admiralbrücke von unten kleiner als gedacht, und bei jeder Unterquerung heißt es freundlich-direkt über Lautsprecher: „Kopp einziehn, sonst is die Rübe ab!“ Durch den Urbanhafen mit seinem Restaurantschiff geht es nun parallel zur Hochbahn zum Deutschen Technikmuseumk und schon bald hinein in den Großen Tiergarten, wo die Lichtensteinbrücke einen Blick zurück ins Jahr 1919 bietet. Ein Denkmal erinnert an die Ermordung von Rosa Luxemburg, deren Leichnam an dieser Stelle aus dem Kanal geborgen wurde.
Zurück in die Spree
Vor der Rückkehr in die Stadtspree mitten im Bezirk Charlottenburg folgt an der Unterschleuse der zweite Schleusenstopp. Direkt neben dem altbekannten „Schleusenkrug“ geht es weitere 1,30 Meter abwärts. Einst standen alle Schleusen Westberlins laut Viermächteabkommen unter DDR-Verwaltung. So genossen die Westberliner im Schleusenkrug ihr Feierabendbier, während direkt darunter DDR-Vertreter für den richtigen Wasserstand sorgten.
Der seit der Nachkriegszeit immer weniger für die Schifffahrt genutzte Kanal passiert vor dem Charlottenburger Tor die überdimensionierte rosa „Schnecke“ mit ihrem blauen Aufsatz, die auch aus dem Fenster der S-Bahn stets gut zu erkennen ist. Dies ist kein Architektur-Experiment oder moderne Kunst, sondern: „Das ist der Strömungskanal des Instituts für Schifffahrt an der TU Berlin“, informiert der Lautsprecher auf dem noch immer lichtdurchfluteten Oberdeck.
Auf der Stadtspree und damit wieder stromaufwärts wird es eng: Dutzende Ausflugsdampfer teilen sich den Fluss, der sich träge und silbrig schimmernd durch die Innenstadt windet. Vorbei am Schloss Bellevue, dem Haus der Kulturen der Welt und dem Kanzleramt zur Rechten und dem Hauptbahnhof zur Linken folgt schon bald das Reichstagsgebäude. Das Gedränge auf dem Fluss führte zu einer besonderen Regelung: Führerscheinfreie Boote bis 5 PS dürfen aus Richtung Osten kommend auf der Spree bis zur Oberbaumbrücke fahren, führerscheinpflichtige Boote über 5 PS immerhin noch bis zur Jannowitzbrücke. Freizeitkapitäne mit Bootsführerschein müssen sich dann bis 19:00 Uhr gedulden, doch anschließend ist für sie bis 09:00 Uhr die gesamte Spree zur Durchfahrt freigegeben.
Vorbei an umstrittener Architektur
Kurz vor dem Ende der Tour folgt auf dem rechten Ufer nach Museumsinsel und Berliner Dom Berlins wohl umstrittenstes Bauprojekt nach dem Flughafen BER: das Humboldt-Forum, zwischen 2012 und 2020 weitgehend in den Dimensionen und in der Optik des 1950 gesprengten Berliner Stadtschlosses errichtet. Allerdings präsentiert sich ausgerechnet die spreeseitige Fassade schlicht und kantig, aus nüchternem Sichtbeton und mit wenig Leben am Ufer. Ob hier im Windschatten von Dom und Lustgarten eines Tages Leben einkehren wird?
Mit dem Nikolaiviertel bietet sich nur wenige Meter später ein weiterer, ebenfalls umstrittener Wiederaufbauversuch. Rechtzeitig vor der 750-Jahr-Feier Berlins entstand im größtenteils kriegszerstörten Nikolaiviertel ein Neubaugebiet, dessen Plattenbauten die historischen Größen, Fassaden und Straßenverläufe nachempfinden sollten. 1987 noch pünktlich vollendet, traf es auf ein bestenfalls geteiltes Echo, doch seit 2018 ist es Teil der Berliner Denkmalliste.
Authentischer wird es zum Ende: Nach Passage der Mühlendammschleuse, die eine Höhe von rund 1,60 Metern überwindet, kündet der historische Hafen davon, dass Berlin einst nicht nur über den Landweg, sondern zu großen Teilen über das Wasser versorgt wurde. Hier ankern heute liebevoll restaurierte historische Schiffe. Und dann taucht er wieder auf, der „Kirchturm“ des Märkischen Museums. Mehreren Kirchenbauten aus der Mark Brandenburg nachentworfen, beherbergt es seit 1908 Exponate, die die Entwicklung der Mark Brandenburg über mehrere Jahrhunderte skizzieren. Nur wenige Meter weiter ist Schluss: Wer die Sonnencreme vergessen hat, verlässt mehr oder weniger rot das Oberdeck – und begeistert, die eigentlich so vertraute Heimatstadt aus einer ganz anderen Perspektive kennengelernt zu haben.
Bilder: Redaktion