Teltow

Als die Teltower den Fluglärm liebten

Es war ein sonniger Tag am 02. Oktober 1910. Massenhaft strömten alte und junge Neugierige zum Stadtrand von Teltow. Die Eröffnung des neuen Flugplatzes nahe des Teltower Bahnhofs wollte sich niemand entgehen lassen. Er wurde nicht nur zu einem touristischen Highlight, sondern vor allen Dingen zu einem Innovationszentrum für Tüftler, Erfinder und waghalsige Abenteurer.

Vor mehr als hundert Jahren, auf dem Höhepunkt der Industrialisierung Deutschlands, gab es noch keine Bürgerinitiativen, die sich gegen moderne Technik und ihre Auswirkungen auf die Umwelt zur Wehr setzten – im Gegenteil: Jede Erfindung, jede neue Technik fand sofort begeisterte Anhänger, und das nicht nur unter Fachleuten, sondern auch und gerade beim breiten Publikum. Ein Sonntagsausflug zum Flugplatz als Ausflugziel für die ganze Familie, mitten unter die knatternden und stinkenden Motoren war das, was junge Familien anzog. Während die Damen des Hauses und ihre Töchter eine Gelegenheit fanden, ihr neues Kleid auszuführen, mischten sich Vater und Sohn unter die tollkühnen Flieger, bewunderten die waghalsigen, fragilen Konstruktionen und lauschten ihren Helden, wenn sie in der Fliegerkneipe fantasievoll ausgeschmückte Abenteuergeschichten vortrugen.

Diese Postkarte zeigt den Teltower Bahnhof zwar ohne Zug, aber mit Flugzeug. Bild: Heimatverein Stadt Teltow 1990 e.V.

Und so machten sich bei schönem Wetter Hunderte von Ausflüglern auf den Weg. Viele kamen über die Ruhlsdorfer Straße und die Flugplatzstraße, die heute Beethovenstraße heißt – zu Fuß, mit der Straßenbahn oder mit der Pferdekutsche aus Teltow und den umliegenden Orten. Die Berliner fuhren mit der Berlin-Halleschen Eisenbahn bis zum Bahnhof Teltow (heute Regionalbahnhof) und liefen dann auf einem gut ausgebauten Weg (den man auf Google Earth noch im Luftbild von 1953 erkennt) zum Flughafeneingang, der an der heutigen Dürerstraße lag. Zwischen der Stelle, wo sich jetzt der Teltower Park befindet (also am südlichen Ende des Musikerviertels) und der früheren Industriebahnstrecke ging hier mit einer nach heutigen Maßstäben geringfügigen Verspätung von nur einem Monat ein laut Zeitungsannonce „nach allgemeinem fachmännischem Urteil in jeder Beziehung idealer Flugplatz mit hartem, festem Boden“ in Betrieb. Rollwege oder betonierte Startbahnen waren damals unüblich: Man startete in Ost- oder Westrichtung, je nachdem wie der Wind wehte, und die 500 Meter breite Startbahn fand man in der Regel dort, wo die meisten „Aufschlagkrater“ von weniger gelungenen Landungen zeugten. Die Startbahnlänge betrug 900 Meter, mehr als genug für einmotorige Kleinflugzeuge – aber man brauchte ja auch etwas mehr Platz, wenn man die schwer steuerbaren Holzkonstruktionen nicht gleich am Anfang der Bahn aufsetzte. Der Platz war aus der Luft einfach zu finden: „Knapp 3 km SO Teltow und 1,5 km W Bahnhof Teltow. Hart nördlich der (Industrie-)Bahn Ruhlsdorf – Teltow und hart westlich der Straße Teltow – Bahnhof Mahlow“ hieß es im deutschen Flugplatzverzeichnis.

Der neue Flugplatz entwickelte sich nicht nur zur großen Attraktion, sondern auch zum beliebten Postkartenmotiv. Um der Stadt Teltow noch mehr Bedeutung zu verleihen, montierte man in der Regel mehr Flugzeuge ins Bild hinein, als jemals gleichzeitig flogen. Zudem brüsteten sich verschiedene Unternehmen – wie beispielsweise die Porzellanfabrik, die Isolatoren für Telegrafenleitungen herstellte – mit dem neu etablierten Flugverkehr, der der Berliner Vorstadt einen Hauch der „großen weiten Welt“ verlieh.

Doch wie kam es eigentlich zur Flugplatzeröffnung an diesem Ort?

Die Geschichte ist kurios: Der ehemalige Briefträger Gustav Witte aus Lichterfelde hatte sich gemeinsam mit einem Freund 1909 ein reparaturbedürftiges Flugzeug aus der Produktion der amerikanischen Gebrüder Wright gekauft, das er instandsetzen wollte. Witte war noch nie mit einem Flugzeug geflogen, machte sich aber mit großer Begeisterung an die Arbeit, unterstützt von der „Flugmaschine Wright GmbH“ und Adolf Hinrichsen, einem optimistischen Geldgeber, der das Gelände erwarb. Zur Finanzierung des Flugplatzes ließ er drei (später fünf) Hangars darauf errichten, die zur Vermietung standen. Die Wright-Flugzeuge – leichte, empfindliche Holzkonstruktionen – hatten nur einen kleinen, schwachen Motor und häufig Probleme mit der Kühlung. Beides optimierte der begabte Bastler Witte, und als alles fertig war, brachte er sich selbst das Fliegen bei. 1911 erhielt er das offizielle Flugmaschinenführerzeugnis – im gleichen Jahr wie seine Kollegin Melli Beese, die erste deutsche Pilotin, die als Frau unter fürchterlichem Mobbing zu leiden hatte, später aber in Berlin-Johannisthal eine eigene Flugschule betrieb.

Eine Postkartevon 1912: Isr diese Karte nicht interessant? Bringe schönes Wetter mit, wir wollen zum Wettfliegen gehen. Zum großen Preis der Biomalzfabrik.“
Bild: Heimatverein Stadt Teltow 1990 e.V.

Mit einer Flugschule machte sich auch Gustav Witte selbständig, nämlich auf dem Teltower Flugplatz, wo es außerdem die „Ikarus-Flugschule“ des späteren AEG-Testpiloten Theo Schauenburg gab. Die Flugschüler kamen jedoch nur selten zum Fliegen, weil man nur starten konnte, „wenn ein entfaltetes, in die Luft gehaltenes Taschentuch sich nicht bewegt“ – so instabil war die Steuerung. Dass Witte diese Regel nicht beachtete, wurde ihm am 15. März 1912 zum Verhängnis. Er war gestartet, um seinen Schülern zu zeigen, welch kühne Kurvenmanöver man veranstalten kann. Eine Böe erfasste das Flugzeug, es kam zum Strömungsabriss, und die Maschine kam ins Trudeln. Witte stürzte aus 50 Metern Höhe ab und starb noch an der Unfallstelle. Die Einnahmen aus dem Verkauf einer Postkarte sollten seine Hinterbliebenen unterstützen.

Der Absturz war übrigens nicht der einzige Unfall auf dem Teltower Flugplatz: Viele Flugschüler mussten aus technischen Gründen auf den Rieselfeldern oder auf Kleinmachnower Äckern notlanden. Trotzdem blieb Teltow ein beliebter Fliegertreffpunkt, unter anderem bei der Flugrallye „Rund um Berlin“ im Jahre 1912. Ein Hangar wurde an die Firma AEG, die eine eigene Flugzeugsparte betrieb, vermietet, und es gab auch ein Gebäude mit einer Gastwirtschaft, die nicht nur den Fliegern als Kneipe und Kantine diente, sondern auch den zahlreichen Besuchern. Zu sehen und zu erleben gab es viel: So wurden in Teltow anerkannte Rekorde aufgestellt: Der erste Nachtflug genauso wie ein Höhen-Weltrekord von über 1.000 Metern – „über den Wolken“ konnte man noch nicht fliegen. Bis 1913 kamen weitere Hallen und ein Wohn- und Verwaltungsgebäude hinzu.

Im Ersten Weltkrieg wurden in Teltow Flugzeugersatzteile produziert – der zivile Luftverkehr kam zum Stillstand. In der „Norddeutschen Flugzeug- Werke GmbH Teltow“ produzierte man für den Kriegseinsatz, kurzzeitig wurde die Firma nach dem Krieg mit 450 Angestellten der größte Teltower Arbeitgeber.  Weil der Versailler Vertrag Deutschland den Bau von Militärmaschinen aber untersagte, wurden nach dem Krieg  Autos und Motorboote gebaut. Verkauft wurden aber nur wenige Exemplare – die Bevölkerung hatte andere Sorgen. Es mangelte an Nahrungsmitteln, und jede verfügbare Ackerfläche wurde für den Anbau von Lebensmitteln genutzt wurde, so auch der Teltower Flugplatz. Die Hangars wurden zeitweise zu Stallgebäuden.

Später versuchten sich dort noch zwei Firmen mit dem zivilen Flugzeugbau, doch der geschäftliche Erfolg blieb aus: 1929 wurde das Flugplatzgelände zwangsversteigert, parzelliert und als Lauben- oder Wohngrundstücke verpachtet, ein Teil wurde Lagerplatz für eine Berliner Abbruchfirma.  Die Deutsche Reichspost errichtete 1939 in der Nähe der Hallen eine Funkanlage, diese wurde aber – wie der Rest der Hangars – im Zweiten Weltkrieg zerstört. Auf dem übriggebliebenen Acker, der nach der Wende teils mit Wohnhäusern bebaut und teils in einen Park mit Spielplatz umgewandelt wurde, sind keine Spuren des einstigen Flugplatzes mehr zu sehen.

Titelbild: Heimatverein Stadt Teltow 1990 e.V. / Bearbeitung Mario Kacner

Dieser Beitrag ist erstmals im Lokal-Report 3/2023 erschienen.