Butscha: Ein Jahr nach dem Schrecken
Von Christian H. Zache
Der Autor besuchte ein Jahr nach den Gräueltaten von Butscha und Irpin die Orte des Unvorstellbaren und sah neben viel Grauen auch Zeichen der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges und einem inzwischen lang ersehnten Frieden.
Wie in vielen Städten auf dieser Welt gibt es auch im kleinen Städtchen Butscha einen Friedhof. Dieser ist etwas am Rande der rund 35.000 Einwohner zählenden Kleinstadt gelegen. Butscha ist nur eine halbe Autostunde nordwestlich vom Stadtzentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt und doch unterscheidet er sich in Teilen von den Friedhöfen der großen Metropole. In Butscha und den angrenzenden Orten Irpin, Hostomel und dem etwas nördlich gelegenen Borodjanka fanden vor allem Ende Februar und in der ersten Märzhälfte 2022 zahllose Kriegsverbrechen statt. Verbrechen, wie sie seit dem Ende zweiten Weltkrieges in Europa, mit Ausnahme des Bürgerkrieges im früheren Jugoslawien, nicht mehr stattfanden. Verbrechen mit einem unvorstellbaren Antlitz an Grausamkeit. Russische Spezialeinheiten, mutmaßlich unterstützt von tschetschenischen Freischärlern und Angehörigen der Söldnergruppe „Wagner“, wobei deren Beteiligung bisher nicht abschließend geklärt wurde, verübten eine ganze Reihe von Massakern, denen allein in Butscha rund 500 Menschen zum Opfer fielen. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Menschen die auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen waren, wurden auf offener Straße erschossen, ihre Leichen lagen zum Teil viele Tage auf der Straße. Den Angehörigen wurde verweigert, die Toten zu bestatten, oder sie wurden eilig in Massengräbern verscharrt. Ganze Straßenzüge wurden dem Erdboden gleichgemacht, Autos beschossen und angezündet. Es wurde geplündert, vergewaltigt, gefoltert. Die Einwohner dieser kleinen Stadt, die vorher keiner kannte, wurden in der wochenlangen Besetzung einem tagtäglichen Martyrium ausgesetzt. Butscha wurde zu einem traurigen Synonym für eine neue Apokalypse.
Schon wenn man in die Straße zum Friedhof einbiegt, ist von weitem ein Meer aus Blumen und ukrainischen Fahnen zu sehen. Jedoch stellt man bei der unmittelbaren Ankunft zunächst fest, dass es sich hier um ein Areal handelt, welches zu einem Soldatenfriedhof ausgebaut wurde. Denn ja, neben den Opfern der Massaker sind hier auch viele ukrainische Soldaten aus der Region begraben, Soldaten die bei der Verteidigung ihrer Heimat ihr Leben lassen mussten. In vielen Ländern ist es üblich ein Foto des Verstorbenen am Grabstein oder am Kreuz zu befestigen. Somit bekommt jeder dort Bestattete auch für Fremde ein Gesicht, was deutlich emotionaler ist. Gerade wegen der grausamen Umstände. Bilder von jungen Männern, um die 20, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Bilder in Uniform, manchmal am Tag der Einberufung gemacht, oder Bilder von einem glücklichen Moment, zum Beispiel der ersten großen Reise begegnen einem. Junge Burschen, vielleicht gerade die erste große Liebe erlebend, vielleicht am Beginn einer hoffnungsvollen beruflichen Kariere, von einem Tag auf den anderen aus dem Leben gerissen. Aber auch ältere Männer, oft Familienväter, die sich sicher nicht ein solches Ende gewünscht hätten, liegen hier begraben. In Butscha und vielen anderen Orten in der Ukraine.
Auf dem Weg zum Ende des Friedhofes kam es zu einer Begegnung, die einem noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Dem Autor und seiner ukrainischen Dolmetscherin kam eine etwa 60-jährige Frau entgegen. Auf die Frage, ob sie wisse, wo sich der Teil des Friedhofes befindet, auf dem die ermordeten Einwohner der Stadt bestattet sind, schaute sie uns mit einem Blick aus Trauer und Leere an und sagte nur: „Schauen Sie, da hinten auf der linken Seite am Ende des Weges liegt mein Mann begraben und da vorne bei den Soldaten mein Enkelsohn.“ Sie ging schweigend weiter und der Satz – das lässt einen sprachlos zurück – ist an Fassungslosigkeit kaum zu überbieten.
Am Ende des Weges angekommen unterteilt sich der Friedhof in zwei Teile. In den Teil, wo die Opfer bekannt waren oder identifiziert werden konnten und den Teil, auf dem sich namenlose Gräber aneinanderreihen. Die große Menge an frischen Gräbern macht einen erneut sprachlos. Alle Gräber, egal ob bekannt oder namenlos, sind mit Blumen geschmückt, ein Zeichen der Würde. Auch hier haben viele Gräber Fotos der Menschen, die durch Gewalt und Terror aus dem Leben gerissen wurden. Menschen jeglichen Alters, zum Teil ganze Familien, sind hier bestattet. In Erinnerung bleiben wird dem Autor das Grab eines 16-jähigen Mädchens, welches genau an dem Tag starb, an dem der Autor Geburtstag hat. Die genauen Umstände ihres Todes wird nur die Familie des Mädchens wissen, aber es zeigt, während man selbst in Frieden und mit Freude seinen Ehrentag begeht, wurden nur zwei Flugstunden, wenn man den fliegen könnte, Menschen in einem Massaker grausam ermordet.
Auf der anderen Seite des Gräberfeldes dann ein erneutes Unbehagen, ein leichter Schock. Mehrere Männer heben frische Gräber aus. In einem kurzen Gespräch erklären sie, dass fast jeden Tag immer noch in der Umgebung, oder in den ausgebannten Häusern Leichen gefunden werden. Da man sie meist nicht mehr identifizieren kann und DNA-Untersuchungen zu teuer und nicht überall durchzuführen sind, werden sie auf dem Feld der Unbekannten beigesetzt. Einige Minuten später nähert sich bereits auch ein zu einem Leichentransporter umgebauter Kühlwagen mit zwei weiteren Särgen. In einem weiteren Fahrzeug kamen einige Einwohner des Ortes. Die Gruppe mit dem Autor hat sich dann zurückgezogen.
Am Abend zurück in Kiew. Die Menschen fahren mit der Metro von der Arbeit nach Hause. Neben den Supermärkten haben auch die Restaurants und Cafés der Stadt geöffnet, sogar das Opernhaus ist offen. Es läuft eine Aufführung von „Madame Butterfly“. Wir sitzen in der Nähe des Maidan in einem Restaurant, zwischen Studenten, Angestellten, Geschäftsleuten und zum Teil anderen Ausländern, meist von Hilfsorganisationen, ganz so wie an vielen Orten auf dieser Welt. Der Krieg ist plötzlich wieder weit weg und doch so nah.